Erinnern ist keine Pflicht der Vergangenheit, sondern eine Verantwortung der Gegenwart

Am 16. Oktober jährte sich der Tod von Konstantin Gedig-Andok Cotkar, der beim Kampf um Serêkaniyê durch einen türkischen Luftangriff ermordet wurde, zum sechsten Mal. In Kiel hat eine Gedenkveranstaltung für den Internationalisten stattgefunden. (Artikel von ANF News)

Reger Andrang bei Gedenken für Andok Cotkar in Kiel

Anlässlich des sechsten Todestages des Kieler Internationalisten Andok Cotkar (Konstantin Gedig) versammelten sich am Samstag etwa 150 Angehörige, Freund:innen und Weggefährt:innen zu einer Gedenkfeier im Kurdischen Gemeindezentrum Schleswig-Holstein in Kiel. Andok Cotkar wurde am 16. Oktober 2019 als Kämpfer der Volksverteidigungseinheiten (YPG) bei der Verteidigung von Serêkaniyê durch türkische Bomben in Nordsyrien ums Leben gebracht.

In den sechs Jahren seit dem Tod Andoks hat die Türkei dessen sterbliche Überreste seiner Familie nicht übergeben. Für die Angehörigen sind dies Jahre der Ungewissheit, der offenen Fragen sowie der Konsequenzlosigkeit für die Täter im türkischen Staatsapparat. Die Familie erfuhr aber auch Solidarität und vielfältige verbindende Begegnungen, so die Moderator:innen. Die jährliche Gedenkfeier sei somit ein wichtiger Tag, um an Andok zu erinnern, Öffentlichkeit zu schaffen und seinen Kampf fortzuführen.

Der Nachmittag begann mit einer Schweigeminute für Andok Cotkar und alle anderen Gefallenen, die für eine menschliche und gerechte Welt ihr Leben ließen. Es folgte ein Grußwort der Deutsch-Kurdischen Gesellschaft Kiel. Die Hauptreden hielten Ute Ruß und Thomas Gedig, die Eltern Konstantins. Ihr Anliegen war es zu vermitteln, was im zurückliegenden Jahr bei den Aktivitäten für Aufklärung, Gerechtigkeit und ein würdiges Gedenken an ihren Sohn unternommen wurde und unter welchen politischen Vorzeichen und Veränderungen diese Auseinandersetzungen stattfanden.

„Weißt du noch, unser Konstantin…?“

Neun Jahre, nachdem Konstantin sich entschieden hatte, als Andok Cotkar zunächst in den Reihen der YPG in Rojava, später bei den ezidischen Widerstandseinheiten YBŞ in Şengal für die Menschen und gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ zu kämpfen, und sechs Jahre nach seiner Ermordung, erinnert sich Ute Ruß an seine Kindheit: An die akribische Beobachtung von Baustellen, an stundenlanges Spielen mit Ritterburgen und Piratenschiffen, an sein Interesse für das Alte Rom. Als junger Mann galt er als vernünftig, bedächtig, selbstbeherrscht und in sich ruhend – diskussionsfreudig, aber kein Freund der unnützen Worte. Diese kostbaren Erinnerungen seien für die Angehörigen insbesondere in den Wochen vor seinem Todestag schmerzhaft. Diesen Schmerz teilen sie mit unzähligen Familien in Nordostsyrien, die ihre Söhne und Töchter im Krieg verloren haben. Solcherlei Erfahrungen müssen aber auch Betroffene rechter und rassistischer Gewalt hierzulande immer wieder machen, denen erst ihre Liebsten genommen wurden, um sodann gegen staatliche Ignoranz und mangelnden Aufklärungswillen ankämpfen zu müssen. Die Erzählungen von Überlebenden der Mordanschläge von Mölln und Hanau belegen dies.

„Wenn ich könnte, würde ich mich in den Staub werfen und die Erde küssen, auf der du gestorben bist!“

Ute Ruß berichtet in diesem Zusammenhang von dem bisher erfolglos gebliebenen zähen Ringen, das Auswärtige Amt als Unterstützer bei der Aufklärung des Kriegsverbrechens durch den türkischen Staat zu gewinnen. Dieses gilt besonders für die Herausgabe von Konstantin Gedigs Leichnam. Bürokratie und außenpolitisches Interesse stünden jedem ernsthaften Einsatz Deutschlands für einen ihrer Staatsbürger, der völkerrechtswidrig von der Türkei getötet wurde, im Wege. Stattdessen seien staatliche Stellen darum bemüht, das türkische Verbrechen mit vorsätzlichen Falschbehauptungen zu legitimieren. So verbreitet der schleswig-holsteinische Verfassungsschutz in seinem Bericht für 2023 die nachweisliche Falschbehauptung, Andok Cotkar habe in den Reihen der PKK-Guerilla (HPG) gekämpft – eine offensichtliche nachträgliche Kriminalisierung seines Engagements für Schutzbedürftige.

Im Kontrast dazu stünden die vielen herzlichen Erfahrungen, die seine Eltern bei ihrem Besuch in der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien machen durften. Diese waren von tiefem Respekt und großer Offenheit geprägt. Dazu gehört auch die Erfahrung eines allgegenwärtigen kollektiven Erinnerns der Gesellschaft an die Verstorbenen. All dies sei die Quelle der Kraft, die es braucht, um nicht aufzugeben, weiter an Gerechtigkeit zu glauben und im Sinne des Andenkens und des moralischen Kompasses ihres Sohnes weiterzukämpfen.

„Nun ist Andok in unserem Herzen, aber seinen Platz an eurer Seite nehmen wir ein.“

Thomas Gedig, Konstantins Vater, nahm anschließend eine politische Bestandsaufnahme der aktuellen Situation in Nordostsyrien vor. Diese sei geprägt von der ständigen Erfahrung, dass der deutsche Staat beim Umgang mit völkerrechtswidrigen Aggressionen mit zweierlei Maß messe. Während etwa Russland für seine Invasionen in der Ukraine mit Sanktionen bestraft würde, bleibe dasselbe Handeln für die türkischen Machthaber ohne Konsequenzen. Ihre Verbrechen würden geduldet, was sich auch in der schon von Ute Ruß skizzierten Verschleppung der Suche nach Andoks sterblichen Überresten niederschlage. Diesbezüglich kam es auch zu einem Treffen von Thomas und Ute mit dem Vater der britischen Internationalistin Anna Campbell, die 2018 in Efrîn ums Leben kam. Auch ihrer Familie bleibt die Beerdigung ihres Körpers bis heute verwehrt.

Die jüngsten Umbrüche der Machtverhältnisse in Syrien, die den Sturz der Herrschaft Assads herbeiführten und die fundamentalistische HTS-Miliz an die Macht brachte, kommentierte Thomas Gedig mit gedämpften Gefühlen. Zwar berge die veränderte Situation durchaus Chancen auf einen Neuanfang und Frieden in Syrien, die Massaker von HTS und der Türkei-nahen SNA infolge der Machtübernahme weckten dagegen Erinnerungen an die Gräueltaten des IS. Thomas Gedig und Ute Ruß haben aus solidarischen Beweggründen Anfang diesen Jahres eine viel beachtete Grußbotschaft in Kurmancî an die Menschen von Nordostsyrien veröffentlicht: „…Aus Kiel in Norddeutschland grüßen wir die Menschen, grüßen wir unsere Familie in Rojava und die Demokratischen Kräfte Syriens, Volksverteidigungseinheiten, Frauenverteidigungseinheiten, den Militärrat der Suryoye und alle Kämpferinnen und Kämpfer von ganzem Herzen!…“

Sie erhielten im Februar, quasi als nachträgliches Geburtstagsgeschenk für Konstantins 30. Geburtstag, überraschend ein Ölgemälde mit dem Abbild ihres Sohnes. Lukman Ahmad hatte es für sie gemalt. Der Künstler wurde in Hesekê geboren, lebt aber seit langem in den USA. Das Gemälde zierte auch die Einladungskarte zur diesjährigen Gedenkveranstaltung.

Mit weiteren Ausführungen zu den zahlreichen Aktivitäten und Begegnungen der Eltern Andok Cotkars im Kampf für eine würdevolle Erinnerung an ihren Sohn und seine Ideale schloss Thomas Gedig die Rede. Der erste Teil der Veranstaltung ging mit drei musikalischen Beiträgen der Gruppe Koma Stêrk der Kurdischen Kulturschule zu Ende, darunter auch das Lied „Zana û Andok“. Nach der Pause wurde für die „Initiative für Frieden und Hoffnung in Kurdistan“ und deren Spielplatz-Projekt für Kinder in Şengal um Spenden gebeten. Dieses Projekt stellt für die Familie Konstantins eine Herzensangelegenheit dar.

Fehlen der Familie Asut

Die Preisträger:innen des zweiten Konstantin-Andok Literaturpreises wurden mit kurzen Zusammenfassungen ihrer Texte vorgestellt. Der Preis soll im Februar 2026 in Berlin verliehen werden. Mit ihm werden Arbeiten gewürdigt, die dem Ausschreibungsthema „Hinschauen und Handeln“ in hervorstechender Weise entsprechen. Die ausgezeichneten Texte benennen Unrecht und zeigen auf, dass das dagegen gerichtete Handeln oft im Kleinen beginnt. Aus über 160 Einsendungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz kürte die Jury die Werke von Christoph Hein, Marcus Neuer und Katja Wilhelm zu den Gewinner:innen.

Im Rahmen des Gedenkens wiesen die Moderator:innen auch auf das Fehlen der Familie Asut bei den diesjährigen Feierlichkeiten hin. Nihat Asut aus Kiel saß bis zuletzt für sieben Monate in Untersuchungshaft in Hamburg und steht derzeit als Angeklagter im Hamburger PKK-Prozess vor Gericht. Nihat war erst am Freitag dieser Woche unter strengen Auflagen aus der Haft entlassen worden, weshalb sein Platz in diesem Jahr leer bleiben musste. Der Prozess gegen Nihat und einen weiteren Aktivisten aus Lübeck wird im November vor dem OLG Hamburg fortgesetzt. Solidarische Unterstützung im Gerichtssaal ist weiterhin ausdrücklich erwünscht.

Der Umstand, dass die freudige Nachricht von der Haftentlassung Nihats auf den sechsten Todestag Andoks fiel, an dem vor dem Landgericht in Kiel zudem der Messerangriff auf eine Kundgebung zur Befreiung von Kobanê in der Kieler Innenstadt Anfang des Jahres verhandelt wurde, verdeutlicht die vielschichtige emotionale Verdichtung, die die Kurdistan-Solidarität in Kiel in dieser Woche prägte. Unter ihrem Eindruck stand auch die Gedenkfeier. Trauer und Freude, Betroffenheit und Solidarität, Fassungslosigkeit und Wärme liegen in diesem Kampf oft nah beieinander und seien auch die Pole, die das Gedenken an die Gefallenen prägen.

Mit einer Danksagung an alle an der Veranstaltung Beteiligten ging das Gedenken mit dem bereits traditionellen gemeinsamen Singen des italienischen Partisan:innenlieds „Bella ciao“ am frühen Abend zu Ende.

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